Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit schreitet der Verlust an Artenvielfalt fort. Jüngstes Beispiel ist der Dünnschnabel-Brachvogel (Numenius tenuirostris), der als erste kontinentale Vogelart Europas durch menschliche Einflüsse in der Neuzeit ausgerottet wurde und seit kurzem als offiziell ausgestorben gilt.
Während im größten Artensterben der Erdgeschichte und mitten in der UN-Dekade für Renaturierung national wie international vermeintlich dringlichere Themen den Diskurs bestimmen, wird der Sorge um unsere existentiellen Lebensgrundlagen eher Desinteresse, Sorglosigkeit und Ablehnung zuteil. Aussterbende Arten sind aber Alarmzeichen, die uns nicht gleichgültig lassen dürfen – auch wenn wir sie wie in diesem Fall nicht persönlich kennen. Der braungraue Wat- bzw. Schnepfenvogel war bis vor 100 Jahren in Eurasien noch weit verbreitet und der häufigste der drei Brachvogelarten. Bis in die 1980er Jahre machten die letzten Exemplare des weitgereisten Vogels auf ihrem Weg nach Südeuropa und Nordafrika auch am Bodensee Station. Die Zerstörung von Mooren, Sümpfen, Steppen, Küstenfeuchtgebieten am Mittelmeer sowie Bejagung ließen die Bestände in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts katastrophal zusammenbrechen. Trotz intensiver Nachsuche in den letzten vermuteten Verbreitungsgebieten in Westsibirien kamen Forschende in einer im Oktober 2024 veröffentlichten Studie zu dem Schluss, dass die Art nicht mehr existiert. Ausrottung bedeutet Verlust und Vergessen für immer. Vom Brachvogel mit dem langen, abwärts gebogenen Schnabel bleiben uns lediglich Beschreibungen, Museumspräparate, einige Foto-, wenige Film- und kaum Tonaufnahmen.
Seit 1500 rottete der Mensch 168 Vogelarten aus. Aktuell stehen über ein Dutzend weitere, mit dem Brachvogel verwandte Arten kurz davor. Eine davon ist der Große Brachvogel (Numenius arquata), der bundes- und landesweit vom Aussterben bedroht ist. Noch brütet er auf Feuchtwiesen und extensivem Grünland auch in Baden-Württemberg. Im Ländle überleben noch wenige Dutzend Brutpaare mit ungewisser Perspektive in großflächigen Schutzgebieten am Oberrhein.
Artenvielfalt garantiert uns Lebensqualität. Jede Art ist einmalig und eine unersetzbare Verknüpfung im komplexen Netz des Lebens, deren Fehlen dieses Netz weiter destabilisiert. Um es funktionsfähig zu halten, lohnt sich der Einsatz für jede einzelne Art, immer und überall.
Dr. Stefan Bosch
Dünnschnabelbrachvogel_Silhouette im Lebensraum_Foto Montage Stefan Bosch